Wach werden am anderen…
Wir beginnen das erste Verständnis für die geistige Welt erst zu entwickeln, wenn wir am Seelisch-Geistigen des andern Menschen erwachen.
Die Welt des Traumes, sie mag schön, sie mag großartig, sie mag bilderreich, vielbedeutend und vieldeutig sein, aber sie ist eine Welt, die für das irdische Leben den Menschen isoliert. Mit der Welt seiner Träume ist der Mensch allein. Da liegt der eine Mensch, schläft und träumt, andere sind um ihn herum, meinetwillen schlafend oder wachend, die Welten, die in ihren Seelen sind, sie haben zunächst für dasjenige, was er im Traumbewußtsein erlebt, sie haben mit seinem Traumbewußtsein nichts zu tun. Der Mensch isoliert sich in seiner Traumwelt, noch mehr in seiner Schlafenswelt. Wachen wir auf, leben wir uns hinein in ein gewisses Gemeinschaftsleben. Der Raum, in dem wir sind, in dem der andere ist, die Empfindung, die Vorstellung diesesRaumes, die er hat, haben wir selber auch. Wir erwachen an unserer Umgebung in einem gewissen Umfange zu demselben inneren Seelenleben, wie er erwacht. Indem wir aus der Isoliertheit des Traumes erwachen, erwachen wir bis zu einem gewissen Grade in menschliche Gemeinschaft hinein einfach durch dieses Wesen unserer Beziehung als Mensch zur Außenwelt. Wir hören auf, so entschieden in uns selbst, so eingesponnen und eingekapselt zu sein, wie wir in der Traumwelt eingesponnen und eingekapselt waren, auch wenn wir noch so schon, so großartig, so vielbedeutend und vieldeutig träumen. Aber, wie wachen wir auf? Wir wachen auf an der äußeren Welt, wir wachen auf an dem Lichte, wachen auf an dem Ton, an den Wärmeerscheinungen, an allem übrigen Inhalte der Sinneswelt, wir wachen aber eigentlich auch – wenigstens für das gewöhnliche alltägliche Leben – an dem Äußeren der andern Menschen auf, an der Naturseite der andern Menschen.Wir wachen für das alltägliche Leben an der natürlichen Welt auf. Diese weckt uns auf, diese versetzt uns aus der Isoliertheit in ein gewisses Gemeinschaftsleben. Wir wachen noch nicht auf – und das ist das Geheimnis des alltäglichen Lebens – als Mensch am Menschen, am tiefsten Inneren des Menschen. Wir wachen auf am Lichte, wir wachen auf am Ton, wir wachen auf vielleicht an der Sprache, die der andere zu uns spricht als zugehörig zum Natürlichen am Menschen, wir wachen auf an den Worten, die er von innen nach außen spricht. Wir wachen nicht auf an dem, was in den Tiefen der Menschenseele des andern vor sich geht. Wir wachen auf an dem Natürlichen des andern Menschen, wir wachen in dem gewöhnlichen alltäglichen Leben nicht auf an dem Geistig- Seelischen des andern Menschen. Das ist ein drittes Erwachen oder wenigstens ein dritter Zustand des Seelenlebens. Aus dem ersten erwachen wir in den zweiten hinein durch den Ruf der Natur. Aus dem zweiten erwachen wir in den dritten Zustand hinein durch den Ruf des Geistig-Seelischen am andern Menschen. Aber wir müssen diesen Ruf erst vernehmen. Genau so, wie man in der rechten Weise für das alltägliche Erdenleben aufwacht durch die äußere Natur, gibt es ein höherstufiges Aufwachen, wenn wir in der richtigen Weise an dem Seelisch-Geistigen unseres Mitmenschen aufwachen, wenn wir ebenso in uns fühlen lernen das Geistig-Seelische des Mitmenschen, wie wir fühlen in unserem Seelenleben beim gewöhnlichen Aufwachen das Licht und den Ton. Wir mögen noch so schöne Bilder in der Isoliertheit des Traumes schauen, wir mögen außerordentlich Großartiges erleben in diesem isolierten Traumbewußtsein – lesen zum Beispiel werden wir kaum zunächst, wenn nicht besonders abnorme Zustände folgen. Diese Beziehung zur Außenwelt haben wir nicht. Nun, wir mögen noch so schöne Ideen aufnehmen aus der Anthroposophie, aus dieser Kunde von einer geistigen Welt, wir mögen theoretisch durchdringen alles dasjenige, was von uns vom Äther-, Astralleib und so weiter gesagt werden kann, wir verstehen dadurch noch nicht die geistige Welt. Wir beginnen das erste Verständnis für die geistige Welt erst zu entwickeln, wenn wir am Seelisch-Geistigen des andern Menschen erwachen. Dann beginnt erst das wirkliche Verständnis für die Anthroposophie. Ja, es obliegt uns, auszugehen von jenem Zustande für das wirkliche Verständnis der Anthroposophie, den man nennen kann: Erwachen des Menschen an dem Geistig-Seelischen des andern Menschen. Die Kraft zu diesem Erwachen, sie kann dadurch erzeugt werden, daß in einer Menschengemeinschaft spiritueller Idealismus gepflanzt wird. Man redet ja heute viel von Idealismus. Aber Idealismus ist heute innerhalb unserer Gegenwartskultur und Zivilisation etwas ziemlich Fadenscheiniges. Denn der wirkliche Idealismus ist nur vorhanden, wenn der Mensch sich bewußt werden kann, daß er genau ebenso, wie er, indem er die Kultusform hinstellt, eine geistige Welt ins Irdische hinunterhebt, er etwas, das er im Irdischen erschaut, im Irdischen erkennen und verstehen gelernt hat, in das Übersinnlich-Geistige hinaufhebt, indem er es ins Ideal erhebt. In das kraftdurchsetzte Bild bringen wir das Überirdische, wenn wir die Kultusgestalt zelebrieren. In das Übersinnliche heben wir uns mit unserem Seelenleben hinauf, wenn wir dasjenige, was wir erleben in der physischen Welt, spirituell-idealistisch so erleben, daß wir es empfinden lernen als erlebt im Übersinnlichen, wenn wir so empfinden lernen, daß wir uns sagen: Dasjenige, was du hier in der Welt der Sinne wahrgenommen hast, wird plötzlich lebendig, wenn du es zum Ideal erhebst. Es wird lebendig, wenn du es in der richtigen Weise durchdringst mit Gemüt und Willensimpuls. Wenn du dein ganzes Inneres vom Willen durchstrahlst, Begeisterung auf es wendest, dann gehst du mit deiner sinnlichen Erfahrung, indem du sie idealisierst, den entgegengesetzten Weg, wie du ihn gehst, wenn du das Übersinnliche in die Kultusgestalt hineingeheimnißt.
Anthroposophische Gemeinschaftsbildung
GA 257 – Seite 115-117